Historikertag 2023: Wissensgeschichte

Von
Laura-Elena Keck, LeipzigLab / ReCentGlobe, Universität Leipzig

Besprochene Sektionen:

Industriell gefertigte Fakten? Wissens- und Evidenzfragen in den Energie- und Umweltdiskussionen der 1970er und 1980er Jahre

Fakten zwischen historischer Forschung und Vergangenheitsaufarbeitung: „Commissioned history“ und Wissensproduktion für die und mit der Öffentlichkeit

Echte Fälschungen? Echtheit, Fälschung und Methoden der Validierung (9.–19. Jahrhundert)

Unsichere Urgeschichte – fragiles Wissen und die Hervorbringung der Tiefenzeit

Sinnliche „Fakten“? Die Fragilität von Umweltwissen in der Moderne

Der Historikertag 2023 war durch sein Motto geradezu prädestiniert, ein breites Spektrum wissensgeschichtlicher Fragen zu verhandeln. Die Auseinandersetzung mit „fragilen Fakten“ gehört schließlich zum Kerngeschäft der Subdisziplin: Wie werden Fakten hergestellt und Wissen als wahr qualifiziert? Wer oder was entscheidet über Echtheit und Authentizität? Und unter welchen Umständen wird bislang als gesichert geltendes Wissen instabil, werden Fakten fragil? All das sind Fragen, die uns gegenwärtig beschäftigen, für die aber auch die Vergangenheit eine reiche Fundgrube an Themen bietet. Die Erwartungen wurden durchaus erfüllt: Obwohl unter dem Stichwort „Wissenschaftsgeschichte“ lediglich eine kleine Zahl von Sektionen verschlagwortet war, zogen sich (im breiteren Sinne) wissensgeschichtliche Fragen und Probleme durch die gesamte Tagung und alle Epochen. Im Folgenden wird versucht, einige dieser Sektionen und Beiträge exemplarisch vorzustellen, auf gemeinsame Schwerpunkte und aktuelle Trends hin zu befragen und auch die Leerstellen der Wissensgeschichte beim Historikertag 2023 zu beleuchten.

Das Programm zeigte, dass die Wissensgeschichte als – gegenüber der klassischen Wissenschaftsgeschichte – breiterer Zugang mittlerweile gut etabliert ist. Sie betont unter anderem die Pluralität von Orten der Wissensproduktion, Wissensformen und beteiligten Akteur:innen und beschränkt sich nicht auf die Erforschung von Universitäten, Wissenschaftler:innen oder Fachdisziplinen. Das wurde zum Beispiel in zwei Sektionen zur Umweltgeschichte deutlich, die gleichzeitig für eine erste thematische Schwerpunktsetzung stehen. Ähnlich wie bei der Wahl des Mottos „Fragile Fakten“ fanden auch hier aktuelle Probleme und Debatten ihren Weg in die historische Forschung. Die beiden Sektionen näherten sich dem Thema dabei aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Die Sektion „Industriell gefertigte Fakten“ widmete sich der Zeit „Nach dem Boom“, also den 1970er- und 1980er-Jahren in den westlichen Industriestaaten. Wie in der Einführung erläutert wurde, ist bislang vor allem das in dieser Zeit produzierte „Gegenwissen“ untersucht worden: In Reaktion auf neuartige Probleme und Herausforderungen veränderte sich auch die Dynamik der Wissensproduktion; neue Akteur:innen – wie etwa Umwelt- und Verbraucherschutzgruppen – betraten die Bühne. Damit ist aber, so die Ausgangsthese der Sektion, nur eine Seite der Transformation beschrieben: Auch die „traditionellen“ Akteur:innen verstärkten angesichts der neuen Herausforderungen ihre Anstrengungen, die Hoheit über die Wissensproduktion zu behalten. Auf diesen Aspekt, von der Sektionsleitung mit den Begriffen „anti-alternativ“ und „Gegen-Gegenwissen“ umschrieben, konzentrierten sich die Beiträge und nahmen dabei vor allem industrienahe Akteur:innen in den Blick. Anhand von Beispielen aus der Atom- und Ölindustrie, Automobilfirmen und Versicherungsunternehmen, aber auch Bundesbehörden zeigten die Referent:innen auf, wie sich von diesen Orten aus neue Wissensformen und -praktiken verbreiteten.

STEFAN ESSELBORN (München) eröffnete die Sektion mit einem Vortrag zur Geschichte des „Risikowissens“: In Reaktion auf die epistemische Herausforderung durch die Anti-AKW-Bewegung etablierte es sich insbesondere seit den 1970er-Jahren als neues Forschungsfeld und Evidenzpraxis, die nicht auf absolute Sicherheit, sondern auf die Bestimmung von „vertretbaren Risiken“ abzielte. Das neue Risikowissen etablierte sich rasch und wurde zu einem wichtigen Bestandteil politischen Handelns. Gleichzeitig handelte es sich jedoch, zumindest aus der Sicht seiner Urheber:innen, von Anfang an um ein fragiles Wissen: Es fiel ihnen schwer, die Deutungshoheit über „ihre“ Fakten zu behalten; als Entlastungsstrategie für die Atomindustrie zeigte es nur begrenzt Wirkung.

Der Vortrag von ODINN MELSTED (Maastricht) untersuchte, wie die Ölindustrie auf die Ölpreiskrisen in den 1970er- und 1980er-Jahren reagierte. Die Zeit zwischen 1973 und 1986 war ihm zufolge eine außergewöhnliche Phase für die Ölindustrie, in der Umweltprobleme und Wachstumsgrenzen ernst genommen und ergebnisoffen diskutiert wurden. Am Beispiel von Ressourcen- und Planungs- sowie Umwelt- und Klimawissen zeigte Melsted auf, wie die Ölfirmen immer mehr selbst zu Wissensproduzentinnen wurden und dieses Wissen zu unterschiedlichen Zwecken einsetzten – etwa zur internen Entscheidungsfindung, aber auch zur strategischen Täuschung der Öffentlichkeit.

LAURA KAISER (Potsdam) lenkte den Blick in den Bereich der Umweltpolitik und zeigte, wie auch dort industrienahes Wissen an Bedeutung gewann: Anhand des Sachverständigenrats für Umweltfragen, der 1971 gegründet wurde, zeichnete sie die Ökonomisierung der bundesdeutschen Umweltpolitik nach, die maßgeblich über die Etablierung einer Kosten-Nutzen-Rationalität funktionierte. Während es zunächst vor allem darum ging, die Kosten des Umweltschutzes zu berechnen, sollte später auch dessen Nutzen als Geldwert beziffert werden. Der Trend zur Ökonomisierung seit den 1970er-Jahren führte nicht nur zur einer Intensivierung der wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Wissenschaft und Politik, sondern auch zu einer Verfestigung der Deutungshoheit ökonomischer Expertise im Bereich der Umweltpolitik.

SÖNKE HEBING (Aachen) untersuchte in seinem Beitrag schließlich die Herausbildung eines neuen „unternehmerischen“ Umweltwissens am Beispiel von BMW und der Münchener Rück. Beide Unternehmen waren sowohl Gegenstand als auch Akteure in den Umweltdebatten in den 1980er-Jahren und richteten eigene Abteilungen oder Forschungsinstitute ein, die nicht nur der internen Entscheidungsfindung, sondern auch der Interessensvertretung gegenüber Politik und Öffentlichkeit dienten. Hebing arbeitete die Ähnlichkeiten zwischen den Wissensstrategien der beiden Unternehmen heraus, zu denen etwa die Betonung von quantitativem Wissen als Gegengewicht zu vermeintlich „ideologischem“ aktivistischem Wissen gehörte. Er verwies aber auch auf wichtige Unterschiede, zum Beispiel in der Positionierung gegenüber staatlichen Behörden: Während die Münchener Rück sich vor allem als Informationsdienstleisterin inszenierte, hatte BMW einen höheren Gestaltungsanspruch und stand staatlichen Regulationsbemühungen kritischer gegenüber.

ELKE SEEFRIED (Aachen) schloss die Sektion mit einem Kommentar ab, in dem sie mithilfe von drei „Sonden“ wichtige Erkenntnisse und offene Fragen zusammenfasste und perspektivierte: „Wissen und Evidenz“ seien in den 1970er-Jahren zwar einerseits durch Zweifel an der Prognostizier- und Steuerbarkeit fragiler geworden. Gleichzeitig hätten sich dadurch aber neue Methoden der Wissensproduktion wie die Risikoforschung oder die Szenarienbildung etabliert. In Hinblick auf „Wandlungsprozesse“ gab sie unter anderem zu bedenken, ob sich die fortschreitende Ökonomisierung der Umweltpolitik nicht besser als Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze beschreiben ließe. Abschließend fragte sie nach „epistemischen Effekten“ des neuen Wissens: Lassen sich in einigen Unternehmen Ansätze einer „echten“ Ökologisierung feststellen? Wie neu war das neue Umweltwissen wirklich? Insgesamt plädierte Seefried für einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Bedeutungen von „Ökonomisierung des Wissens“ sowie auf die vielfältigen Konstellationen von Kooperation und Konkurrenz und hinterfragte in diesem Kontext auch den Begriff des „Gegenwissens“, der eventuell zu binär sei. Dieser Punkt wurde auch in der anschließenden Diskussion aufgegriffen und auf seinen analytischen Mehrwert hin befragt, während in Bezug auf Leitbegriffe des unternehmerischen Umweltwissens wie „Risiko“ auf deren vielfältige Bedeutungen und semantische Verschiebungen verwiesen wurde, die es mitzudenken gelte.

Einen ganz anderen Zugang zur Umweltgeschichte wählte die Sektion zu „Sinnlichen Fakten“. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Potentiale eines „sensory turn“ für die Wissensgeschichte auszuloten und anhand umwelthistorischer Kernthesen zu überprüfen. Damit rückte die Sektion den Körper ins Zentrum – und zwar nicht als Objekt, sondern als Mittel der Wissensproduktion.

Ein Kernproblem dabei ist die Unzugänglichkeit subjektiver sinnlicher Erfahrungen für Dritte, wie im ersten Vortrag von MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) deutlich wurde: Sie spürte der bereits seit der Antike nachweisbaren Verknüpfung der Phänomene Föhn und Wahnsinn nach, die in der psychiatrischen Forschung des 19. Jahrhunderts neuen Aufwind erhielt. Dass das Wetterphänomen Einfluss auf das Nervensystem nehmen konnte, Sinneswahrnehmungen veränderte und „Stimmungen“ erzeugte, galt als unbestritten und hat Niederschlag in ganz unterschiedlichen Quellengattungen gefunden. Messbar waren diese Sinneswirkungen jedoch nicht – was ihre Erfassung im Rahmen eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses schwierig machte. Für die Verknüpfung von Wissens- und Sinnesgeschichte hingegen, betonte Heidegger, ergeben sich hier vielfältige Ansatzpunkte.

RICHARD HÖLZL (Göttingen) lauschte dem „Klang der Axt“ in literarischen Quellen aus dem 19. Jahrhundert und interpretierte die dort beschriebenen „soundscapes“ vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse zu Nachhaltigkeit. Die Beschreibung der Axtklänge fungiere, so seine These, als literarische Technik der Emotionalisierung und Moralisierung, die nur vor dem Hintergrund sozialökologischer Prozesse und virulenter gesellschaftlicher Debatten dieser Zeit verständlich wird.

WILKO GRAF VON HARDENBERG (Berlin) beschäftigte sich ebenfalls mit dem Sinn des Hörens, der seiner Einschätzung nach bei der historischen Forschung zur Herausbildung einer modernen Umweltsensibilität meist zugunsten des Sehsinns vernachlässigt werde. Anhand von zwei Zeitschriften der frühen Umweltbewegung arbeitete er eine zeitgenössische „soundscape“ der zugleich als erhebend und bedroht kodierten Natur heraus, deren Erleben Wissen voraussetzte, aber auch generieren konnte.

KAROLIN WETJEN (Göttingen) stellte ihren Ansatz für eine „Sinnesgeschichte vom Klima“ vor und begab sich damit mitten in das Spannungsfeld von „gefühltem“ und „exaktem“ Wissen: Seit dem Beginn der Verwissenschaftlichung der Klimaforschung im späten 19. Jahrhundert wurde Sinneswissen immer mehr abgewertet. Gleichwohl spielte es nicht nur für die Alltagswahrnehmung von Wetter und Klima, sondern auch in der Forschung weiterhin eine – wenn auch oft implizite – Rolle. Als mögliche Quellen für individuelle klimatische Sinneswahrnehmungen analysierte Wetjen unter anderem Wetterbeschreibungen in Tageszeitungen: Das neue Klimawissen veränderte die Wetterwahrnehmung, die sich wiederum zu einer neuen Form des „impliziten Klimawissens“ verdichten konnte. In dem Zugang über die Sinnesgeschichte sah Wetjen das Potential, einen Beitrag zur Dezentrierung des Klimawissens zu leisten.

REGINA THUMSER-WÖHS (Linz) schließlich befasste sich mit der Frage, welche Rolle Sinnes- und Umweltwissen für Exilant:innen spielte. Anhand von autobiographischen Berichten, Interviews und anderen Quellen rekonstruierte sie die Schwierigkeiten, die die häufig als sehr fremd empfundene neue Umgebung mit sich brachte: Erlerntes Sinneswissen „funktionierte“ häufig nicht mehr, es musste neu erlernt werden. Auch die Strategien, die bei diesem „Umlernen“ zum Einsatz kamen, beschrieb die Referentin.

In der Diskussion wurde das Spannungsverhältnis zwischen „exaktem“ und „gefühltem“ Wissen wieder aufgegriffen: Wie lassen sich etwa die mittlerweile sehr exakten und umfangreichen Klimadaten in ein Projekt zur Sinnesgeschichte des Klimas integrieren? Eine Entgegnung darauf lautete, dass es sich dabei nicht nur um ein Problem der Sinnesgeschichte handele. Vielmehr sei damit eine grundlegende Herausforderung der Wissenschaftsgeschichte sowie der Science and Technology Studies (STS) umrissen.

Neben umwelthistorischen Themen fand auch die Produktion und Validierung von historischem Wissen als Untersuchungsgegenstand relativ viel Aufmerksamkeit. Natürlich ist der Historikertag generell ein guter Ort, um über das eigene Fach zu reflektieren und dessen Methoden kritisch unter die Lupe zu nehmen. Zudem mangelt es auch hier nicht an aktuellen Bezügen, wie die Vielzahl an Sektionen und Veranstaltungen zeigt, die sich mit den Auswirkungen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz auf die Geschichtswissenschaften befassten. Dass der Blick über den universitären Tellerrand hinaus und auf andere Akteur:innen und Orte der Wissensproduktion lohnt, zeigte für diesen Bereich insbesondere die Sektion zu „Commissioned History“.

STEPHAN SCHEUZGER (Gamprin-Bendern/Zürich) eröffnete die Sektion mit einem Vortrag zur Rolle von Zeugnissen in unterschiedlichen Wahrheitskommissionen seit den 1980er-Jahren, legte jedoch zunächst einige konzeptionelle Überlegungen dar: Die Sektion hatte sich die Aufgabe gestellt, unterschiedliche Formen der „commissioned history“ – dazu zählten neben den Wahrheitskommissionen auch Expert:innenkommissionen zur Aufklärung von Missbrauchsfällen und staatlichen Zwangsmaßnahmen – zu untersuchen und insbesondere die Spannungsfelder auszuloten, in denen diese operierten. Zentral ging es dabei um die Frage, welche Rolle die Zeugnisse Betroffener für die Produktion und Validierung historischen Wissens spielten. Bekamen sie überhaupt eine Stimme? Und wenn ja, dienten ihre Aussagen eher der Illustration oder wurden sie als eigenständiger Modus der Wissens- und Wahrheitsproduktion gesehen?

Scheuzger untersuchte diese Fragen aus einer diachron und transnational vergleichenden Perspektive mit Fokus auf Südamerika und Südafrika. In den südamerikanischen Wahrheitskommissionen der 1980er- und frühen 1990er-Jahre zum Schicksal der „desaparecidos“ stand das „fact finding“ im Zentrum. Berichte von Angehörigen wurden zwar angehört, spielten für die Wissensproduktion aber eine klar untergeordnete Rolle. Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission stellte hingegen das „truth telling“ stärker ins Zentrum: Erstmals fanden die Anhörungen von Betroffenen und Tätern öffentlich statt, allerdings als stark kuratierte, hochkontrollierte Veranstaltungen. Die Spannung zwischen faktisch-forensischem und persönlich-narrativem Wissen ließ sich aber auch hier nicht auflösen: Den Zeugenaussagen wurde zwar deutlich mehr Raum gegeben, letztendlich übernahmen sie aber doch eher illustrative Funktionen. Es habe sich, so Scheuzger, bei den Wahrheitskommissionen nicht um „postmoderne Plattformen einer vielstimmigen Geschichtsdarstellung“ gehandelt, sondern um den Versuch, mithilfe wissenschaftlicher Methoden möglichst unangreifbare Fakten zu schaffen, auf denen sich ein (neuer) gesellschaftlicher Konsens aufbauen ließ.

Mit den Vorträgen von LORETTA SEGLIAS (Wädenswil) und KLAUS GROSSE KRACHT (Hamburg) folgten zwei Beispiele aus der aktuellen Praxis einer „commissioned history“: Seglias berichtete von der Arbeit der „Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgung in der Schweiz“, die von 2014 bis 2019 aktiv war und zu deren Mitgliedern sie zählte. Große Kracht sprach als einer der Autoren über eine 2022 erschienene geschichtswissenschaftliche Studie zu den Missbrauchsfällen im Bistum Münster. Seglias legte einen Schwerpunkt auf die Bemühungen der Kommission, den Stimmen der Betroffenen Raum zu geben, und zwar nicht nur als illustratives Beiwerk, sondern als genuine Beiträge zu Wissensproduktion. Das geschah unter anderem durch offene, leitfadengestützte narrative Interviews und Dialogveranstaltungen, auf denen die Betroffenen auch ihre Erwartungen den Forscher:innen gegenüber äußern konnten.

Um Letzteres ging es auch bei Große Kracht: Er fragte, welche Erwartungen von unterschiedlichen Seiten – den Betroffenen, den Auftraggeber:innen, aber auch der Öffentlichkeit – an die mit der Studie beauftragten Forscher:innen herangetragen wurden. Als Hauptproblem der „commissioned history“ sah er nicht die Erteilung eines Auftrags von außen, sondern vielmehr die strukturelle Überforderung mit diesen vielfältigen Erwartungen, die sich im Forschungsalltag nicht immer umsetzen ließen, sowie die unklare äußerungsrechtliche Lage etwa in Bezug auf die namentliche Nennung von Täter:innen.

Der Beitrag von ANNETTE WEINKE (Jena) schließlich schlug den Bogen zurück von der Praxis- zur Theorieebene und widmete sich der Rolle von Aktivisten-Historikern und Opferzeugen in den Enquête-Kommissionen zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur (1992–1998). Die politischen Differenzen und Auseinandersetzungen, die die Arbeit der Kommissionen von Anfang an begleiteten, führte Weinke unter anderem auch auf unterschiedliche Auffassungen zur historischen Wissensproduktion zurück: Während die westdeutschen Mitglieder eher auf klassische, objektivierend-wissenschaftliche Formen der Aufarbeitung setzten, drängte eine Gruppe ostdeutscher Historiker und ehemaliger Dissidenten darauf, neue Formen der Wissensproduktion und -vermittlung zu erproben, die sowohl die Öffentlichkeit als auch persönliche Erfahrungen mit einbeziehen sollten. Weinke stellte die These auf, dass sich diese Dissonanzen nicht allein durch die unterschiedlichen Biographien der west- und ostdeutschen Historiker erklären ließen, sondern dass auch das allgemeinere westdeutsche Diskursumfeld eine wichtige Rolle spielte.

SONJA MATTER (Bern/Fribourg) betonte in ihrem Kommentar zum einen das Ineinandergreifen von lokal spezifischen Kontexten und transnationalen Transferprozessen, die sich bei den unterschiedlichen Wahrheitskommissionen und Aufarbeitungsprozessen feststellen ließ. Zum anderen warf sie mehrere methodische Fragen auf, die in der anschließenden Diskussion weiter besprochen wurden: Welches „Produkt“ sollen Wahrheitskommissionen liefern? Welchen politischen und gesellschaftlichen Einfluss haben die Empfehlungen, die in den Abschlussberichten von Kommissionen oder Studien ausgesprochen werden? Wie weit soll und kann eine partizipative Forschung gehen, die Betroffene unmittelbar einbindet? In Bezug auf den letzten Punkt betonte Große Kracht in der Diskussion die Rolle der Wissenschaftskommunikation: Unterschiedliche Formen der „Citizen Science“ seien nur dann sinnvoll, wenn sie auch als Plattform genutzt würden, um zu erklären, wie Wissenschaft funktioniert und warum sie zwangsläufig selektiv vorgeht. Die Sektion war insgesamt ein gutes Beispiel dafür, wie die Auseinandersetzung mit wissensgeschichtlichen Themen nicht nur wichtige historische Erkenntnisse liefern, sondern auch direkt auf wissenschaftliche und geschichtspolitische Praxisfelder zurückwirken kann.

Nicht der Fachdisziplin Geschichte, sondern der Urgeschichte widmete sich die Sektion zur „Hervorbringung der Tiefenzeit“ – und beleuchtete damit gleiche eine ganze Reihe wissenschaftlicher Fächer von der Paläontologie und Geologie bis hin zur Archäologie. Im Vergleich zu anderen Sektionen schienen die Beiträge damit zunächst etwas stärker an der „klassischen“ Wissenschaftsgeschichte orientiert zu sein, blieben dabei aber nicht stehen: Die Referent:innen beleuchteten zum Beispiel auch, welchen Anteil die Religion, die Unterhaltungsindustrie oder die Kunst an der Hervorbringung von Wissen zur „Tiefenzeit“ hatten und wie gesellschaftliche und politische Strukturen – nicht zuletzt auch Kolonialismus und Imperialismus – die Interpretation der Vergangenheit beeinflussen. Der zeitliche Schwerpunkt lag dabei auf dem 19. Jahrhundert. Mit der „Urgeschichte“ waren damals, wie in der Einführung dargelegt wurde, vielfältige gesellschaftliche Erwartungen verknüpft, die wiederum auf die Wissensproduktion zurückwirkten.

JOHANNES GROSSMANN (Tübingen) zeigte das in seinem sehr dichten Vortrag zur Dinosaurierforschung im 19. Jahrhundert: Indem er die unterschiedlichen Kontexte der akademischen Wissensproduktion auffächerte, die von religiöser Heilslehre und Darwinismus über die Unterhaltungsindustrie und die Kommodifizierung der Dinosaurierfaszination bis hin zu imperialen Praktiken und aufkommenden Umweltdiskursen reichten, konnte er zeigen, aus wie vielen unterschiedlichen Quellen sich das paläontologische Wissen speiste – nicht zuletzt, weil die Quellenlage in Bezug auf paläontologische Funde äußerst prekär war.

PATRICK STOFFEL (Lüneburg) beschäftigte sich mit der Schwelle zwischen Erd- und Menschheitsgeschichte und ihrer visuellen Darstellung: Der Paläobiologe Franz Unger unternahm zwischen 1845 und 1868 mehrere Versuche, in Kooperation mit Landschaftsmalern ein Bild des „Urmenschen“ zu entwerfen. Auch hier war die Quellenlage dürftig, so dass Inspirationen aus der biblischen Schöpfungsgeschichte, Ethnologie und Anthropologie, aber auch deutlich erkennbare Projektionen zeitgenössischer Geschlechter- und Familienmodelle mit einflossen. Stoffel zeigte jedoch auch, dass sich Ungers Bild des Urmenschen im Laufe der Jahre – und mit der Entdeckung neuer Funde – fortlaufend veränderte und aktualisiert wurde.

Die folgenden drei Beiträge befassten sich mit der Produktion von Wissen zur vorschriftlichen Geschichte der Menschheit. MIRA SHAH (Frankfurt am Main) zeigte am Beispiel der Forschung zu Pfahlbauten in der Schweiz, dass die Rekonstruktion der Geschichte prähistorischer Siedlungen maßgeblich über Analogiebildungen funktionierte: Im Sinne einer „Chronopolitik“ wurden „primitive Völker“ der Gegenwart mit den „Urvölkern“ verglichen; ethnologische und anthropologische Studien sollten die Lücken der archäologischen Quellenlage schließen. Durch die selektive Auswahl und Konstruktion von Ähnlichkeiten wurden so unter anderem Imaginationen eines Schweizer „Urvolks“ fabriziert.

Der Vortrag von MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) kreiste um die stark umstrittene These des „pleistozänen Overkill“, die prähistorische Jagdpraktiken für das Aussterben der Großsäuger vor rund 12 000 Jahren verantwortlich macht. Auch hier lassen sich nicht nur Analogieschlüsse zwischen Urgeschichte und Gegenwart, sondern vor allem eine starke Instrumentalisierung des fragilen Wissens zur prähistorischen Menschheitsgeschichte für politische Diskurse feststellen.

BRIGITTE RÖDER (Basel) fasste in ihrem abschließenden Vortrag zum Umgang mit „urgeschichtlichen Quellen“ viele dieser Punkte noch einmal eindrücklich zusammen: Das Fehlen schriftlicher Quellen erschwere die Deutung von Artefakten erheblich – insbesondere, wenn es nicht um deren praktischen Nutzen, sondern um die Einbettung in soziale Kontexte gehe. Statt diese Schwierigkeiten zu reflektieren und offenzulegen, werde den Objekten aber häufig das Potential zugesprochen, quasi „von selbst“ eine Geschichte zu erzählen. Dass es sich dabei um einen Fehlschluss handelt und vielmehr eine Reduktion „von vieldeutigen Artefakten zu plastischen Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben“ stattfindet, zeigte Röder unter anderem an Visualisierungen archäologischer Szenen in Schulbüchern: Die Urgeschichte wird dabei zur Projektionsfläche für gegenwärtige soziale Ordnungsmodelle; einer minutiös rekonstruierten materiellen Umwelt steht eine Darstellung sozialer Strukturen gegenüber, die sich in weiten Teilen als Fiktion erweist. In der anschließenden Diskussion wurde diese Problematik auch aus der Perspektive der Geschichtsvermittlung, etwa im Schulunterricht, aufgegriffen: Welches Wissen kann und soll noch vermittelt werden, wenn die Faktenlage so fragil ist? Röder plädierte dafür, Raum für anderen Interpretationen zu lassen und die Ambivalenz als Chance zu begreifen: Anstelle einer „trügerischen Vertrautheit“ könne die Neugier auf „potentielle Fremdheit“ neue, überraschende Geschichten und Fragen hervorbringen.

Einige Themen spielten quer durch die Sektionen hindurch immer wieder eine Rolle. Dazu gehörten zum Beispiel unterschiedliche Facetten von Emotionalität, die von mehreren Referent:innen nicht als „Gegenspielerin“ von Rationalität und Wissensproduktion, sondern gerade als deren Bestandteil analysiert wurde. Die „emotionalen Wissensstrategien“ von Versicherungsunternehmen, die auf die Visualisierung von Risiken und Katastrophen setzten, oder die emotionale Ebene von Zeug:innenaussagen in Wahrheitskommissionen als integraler Bestandteil der Wissensproduktion sind Beispiele dafür. Auch Emotionen, die von außen an die Forschung herangetragen oder durch Forschungsobjekte ausgelöst wurden, spielten in mehreren Sektionen eine Rolle. Beispiele waren etwa archäologische Objekte, die der Kindheit zugeschrieben werden und persönliche Erinnerungen und Emotionen wecken können, oder die Welle der Faszination und Begeisterung, die Rekonstruktionen riesiger Dinosaurierskelette im 19. Jahrhundert (und bis heute) auslösten. Hier gibt es sicherlich noch Potential für zukünftige Projekte, die stärker auf diese Aspekte fokussieren.

Ein weiteres Thema, das – wie eingangs schon angedeutet – immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen wurde, war die Produktion von Wahrheit. Dass es dabei nicht nur um die Validierung wissenschaftlicher Fakten ging, sondern die Wahrheitsfindung eingebunden war in ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Kontexte, auf die sie reagieren musste, führte etwa die Sektion zu „Commissioned History“ eindrücklich vor Augen, die weiter oben bereits besprochen wurde. Auch die Grenzen etablierter Verfahren zur Wahrheitsproduktion wurden besprochen, etwa in der Sektion zu „Umweltwissen“, in der wiederholt die Frage nach der Validierbarkeit subjektiver sinnlicher Erfahrungen gestellt wurde.

Die Sektion „Echte Fälschungen“ stellte das Thema Wahrheitsproduktion ins Zentrum und befasste sich aus einer epochenübergreifenden Perspektive vom 9. bis ins 19. Jahrhundert mit Konzepten und Herstellungspraktiken von Wahrheit und Authentizität. ANDREEA BADEA (Frankfurt am Main) stellte mit Shapin und Fleck zwei Klassiker der Wissensgeschichte an den Anfang ihrer Einleitung: Beide haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Wissen validiert wird, dabei jedoch unterschiedliche Aspekte betont. Die Sektion griff die hierin angedeutete Vielfalt von Authentifizierungsstrategien auf und fragte nach Kontinuitäten und Veränderungen in Bezug auf Validierungspraktiken, Prüfverfahren und Konzepte von Glaubwürdigkeit und Authentizität. Die vier Beiträge spannten nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich einen breiten Bogen.

IRENE VAN RENSWOUDE (Amsterdam) begann mit einem Vortrag zur Authentizität anonymer Texte im frühen Mittelalter. Diese Texte hatten im Allgemeinen einen weniger sicheren Status als Schriften, die sich einem Autor zuordnen ließen. Durch die Kombination mehrerer Merkmale – eine Art frühmittelalterlicher „multi-factor authentification“, wie Renswoude augenzwinkernd bemerkte – ließ sich aber auch für apokryphe Texte eine „aura of authenticity“ herstellen.

Um die Herstellung von Authentizität ging es auch im anschließenden Vortrag von ISABEL IRIBARREN (Strasbourg), allerdings in Bezug auf Visionen von Frauen um 1500. Bei der Bewertung solcher Zeugnisse trafen zwei unterschiedliche „modes of knowledge“ aufeinander: das „experiential knowledge“ der Seherinnen und das „disciplinary knowledge“ der (männlichen) „confessors“ und „censors“, die für die Verschriftlichung der Visionen zuständig waren und über ihre Veröffentlichung entschieden. Anhand mehrerer Beispiele analysierte Iribarren die rhetorischen und sozialen Strategien, über die Visionen als „authentische Fakten“ konstruiert und präsentiert werden konnten.

RENÉE SCHILLING (Amsterdam) blieb im religiösen Kontext und untersuchte am Beispiel des Reliquienkultes von St. Rombout im belgischen Mechelen, welche Kriterien zur Bestätigung der Echtheit von Reliquien herangezogen wurden und wie sich diese zwischen dem 9. und dem 18. Jahrhundert veränderten. Dabei verschob sich der Fokus im Laufe der Zeit von Kontextfaktoren – etwa den mit der Reliquie assoziierten Wundern, der Verlässlichkeit der Zeugen oder den Absichten der Gläubigen – zur Reliquie selbst: Mithilfe neuer medizinischer Untersuchungen und technischer Verfahren wurde zum Beispiel seit dem 18. Jahrhundert versucht, die Todesursache oder das Alter der Gebeine festzustellen. Schilling stellte aber auch fest, dass diese neuen wissenschaftlichen Authentifizierungsstrategien für die Gläubigen die älteren Kriterien keineswegs ersetzten.

Im letzten Vortrag der Sektion sprach ILJA NIEUWLAND (Amsterdam) über den Schausteller Alfred Koch, der in den 1840er-Jahren mit einer Konstruktion aus fossilen Knochen durch die USA und Europa tourte, die er als prähistorische Seeschlange („Hydrarchos harlani“) ausgab. Koch knüpfte sowohl an zeitgenössische wissenschaftliche Diskurse als auch an biblische Motive an, um die Glaubwürdigkeit seiner Fälschung zu erhöhen. Sein Erfolg ließ sich nicht zuletzt auch dadurch erklären, dass er ein gutes Gespür für zeitgenössische Erwartungen und Interessen zeigte: „Any good forgery lives up to a certain kind of expectation.“

Die Diskussion im Anschluss an die Vorträge zeigte die Vorteile, aber auch die Schwierigkeiten des epochenübergreifenden Ansatzes auf: Er machte deutlich, dass unterschiedliche Modelle multifaktorieller Authentifizierungsstrategien in allen Epochen verbreitet waren, dabei aber je nach Kontext sehr unterschiedliche Formen annahmen. Dieser Umstand bringt methodologische Herausforderungen mit sich, wie am Beispiel des Begriffs „Authentizität“ diskutiert wurde: Seine Bedeutungen verschoben sich über die Jahrhunderte hinweg so stark, dass bei der Verwendung als Analysebegriff immer die Gefahr einer anachronistischen Verzerrung mitschwingt.

In der Gesamtrückschau bot der 54. Historikertag ein vielfältiges und ertragreiches Programm zum Thema Wissensgeschichte, das viele aktuelle gesellschaftspolitische Debatten und Probleme aufgriff. Etwas überraschend war vor diesem Hintergrund allerdings eine weitestgehende Leerstelle zu medizin- und gesundheitshistorischen Themen aus wissensgeschichtlicher Perspektive. Generell lag der Fokus nicht hauptsächlich auf naturwissenschaftlichem Wissen – dem Stammthema der STS –, sondern wandte sich stärker auch den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen oder ganz anderen Orten der Wissensproduktion zu. Auch transnationale und -regionale Wissenszirkulation spielte eher am Rande eine Rolle: Zwar wurden solche Bezüge immer wieder in einzelnen Beiträgen oder in der abschließenden Diskussion erwähnt, methodisch im Zentrum standen sie aber in keiner der besuchten Sektionen. Das mag ein Zeichen dafür sein, dass diese Perspektive inzwischen schon als so etabliert gilt, dass sie weniger dezidierte Aufmerksamkeit erhält. An der einen oder anderen Stelle wäre eine etwas ambitioniertere Einbeziehung transnationaler Bezüge jedoch sicherlich ertragreich gewesen. Das gilt auch für den Blick über den „westlichen“ Tellerrand hinaus, den in den hier besprochenen Sektionen kaum eine Rolle spielte. Davon abgesehen ließ sich jedoch eine begrüßenswerte Experimentierfreudigkeit in Bezug auf neue Wissensformen, -orte und -akteur:innen feststellen, die zeigt, dass die Wissensgeschichte überraschende und bisher wenig beachtete Perspektiven und Aspekte ins Zentrum rücken kann – nicht nur, aber auch in Bezug auf aktuelle Debatten.

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